"Ich weiss nicht wie sterben geht..."

 

Ein Erlebnis auf der Palliativstation

 

Es ist schon ein paar Jahre her als ich folgende Begegnung mit Gertrud, 75 Jahre jung, als KlinikClown auf einer Palliativstation hatte.

Vom Pflegepersonal bekamen mein Kollege und ich die Ansage, dass sich Gertrud in einer depressiven Phase befinde, sie ihre Erkrankung offenbar nicht akzeptiere und es gut sein könne, dass wir hochkant wieder rausgeschmissen werden - sodenn wir es überhaupt schaffen würden, unsre Nasen in ihr Zimmer hineinzubekommen.

 

Ich persönlich mag Herausforderungen sehr und stelle mich erst recht Situationen, die im ersten Moment als schwierig, wenn nicht sogar unmöglich eingeschätzt werden. Nachdem ich mittlerweile so unendlich viele unerwartete Erfahrungen beim Zusammentreffen mit Menschen in schwierigen Umständen gesammelt habe, bin ich einfach nur dankbar darüber immer wieder aufs Neue überrascht und berührt zu werden.

 

Folgendes geschah:

Wie bei jedem Zimmer klopften wir an Gertruds Zimmertür an. Ein kleiner, kurzer Rhythmus. Anders, als sonst vielleicht geklopft wird. Sie war allein.

Es benötigte 3 Schritte in ihr Zimmer bis sie mich und ich sie in ihrem Bett liegen sehen konnte. Sie sah mich an, riss ihre Augen auf und sagte vehement:

"Nein! Also wirklich... Nein! Was wollen Sie bei mir? Mir ist nicht nach sowas!"

Ich sah sie an und antwortete: "Ganz ehrlich: Ich weiss nicht, wie es mir an Ihrer Stelle gehen würde, weswegen ich Ihre Reaktion durchaus nachvollziehen kann."

Wir schauten uns knapp 5 Sekunden lange in die Augen. Meinen Kollegen hatte sie noch nicht erblickt. Er trat einen Schritt nach vorne in ihr Sichtfeld und zog seinen Hut vor ihr, um eine Verabschiedung anzudeuten.

Sie sah uns beide an. Dann sagte sie ernst:

"Wissen Sie, ich werde sterben, und ich weiss beim besten Willen nicht, wie das gehen soll. Das macht mich traurig."

 

Das Eis war gebrochen. Gertrud lag vor uns in ihrem Bett, teilte ihre größte Angst mit uns, neben sich ein Bild von ihrer Familie auf dem Nachttisch stehend. Sobald ich private Fotos sehe berühren mich die Schicksale noch mal eine Stufe mehr. Es ist zwar nur ein ganz klitzekleiner Einblick in eine Momentaufnahme des Menschen vor mir und doch kann man schnell sehen, welche Spuren bisher gelegt wurden.

 

Wir schauten uns wieder für ein paar Sekunden an.

Ich sagte: "Ich weiss es leider auch nicht. Bisher bin ich nicht gestorben, und wenn ich es schon mal bin, kann ich mich leider nicht mehr daran erinnern.

Was ich jedoch weiss, ist, wie jemand aussieht, der verstorben ist."

Ihre Augen wurden immer größer und ihr Mund stand leicht offen. Ich war auf alle Reaktionen gefasst. Entweder schmeisst sie uns raus oder wir haben es geschafft eine wirkliche Verbindung zusammen einzugehen.

Sie sagte nichts. Aber ihr Augen-blick war milde, gnädig, traurig aber nicht abgeneigt.

Also nahm ich allen Mut zusammen und schlug ihr vor, dass mein Kollege und ich nun vor die Tür gehen, ihr 10 Sekunden Zeit geben, damit sie sich so platzieren könne, wie sie glaube, dass sie aussehe, sobald sie verstorben sei.

Ein kurzer irritierter Blick und dann huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht.

 

Wir gingen vor die Tür, lehnten diese an, damit sie unseren Countdown hören konnte, verzählten uns hier und da mal kurz, aber egal. Nach ca. 10 Sekunden betraten wir ihr Zimmer.

Sie lag kerzengerade vor uns, die Hände über der Decke gefaltet, die Augen geschlossen.

Wir schauten sie in Ruhe an, bis sie von sich aus die Augen öffnete. Sie sah uns an. Schweigend.

Ich sagte, dass da schon sehr viel Schönes dabei gewesen sei, ihre Füße jedoch unter der Decke zu sehr angespannt seien, diese mehr zur Seite zeigen sollten. Und ob sie sich sicher sei, dass sie ihre Hände bereits gefaltet habe. Meistens machen das ja diejenigen, die sie dann auffinden. Auf alle Fälle aber der Bestatter. Sie schmunzelte. Wir gingen erneut vor die Tür, wieder 10 Sekunden, wieder ins Zimmer zu ihr und eine erneute Korrektur an ihrer Position vorschlagend. Diesmal sei ihr Mund zu angespannt. So ging das noch ein weiteres Mal, bis wir alle "zufrieden" waren. Auch Gertrud fühlte sich nun wohl mit ihrer Endposition.

 

Ihr Gesicht hatte sich entspannt, ihr Blick war klar und liebevoll zu uns gerichtet. Sie bedankte sich dafür, dass wir sie "so ausgehalten" haben. Es sei einfach nicht leicht, das Alles. Sie bekam von uns vollstes Verständnis dafür und wir verabschiedeten uns mit einem Wunsch, den wir den meisten Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen mitgeben: "Gute Reise, Gertrud!" - sie lächelte und sowohl ihre als auch meine Augen fühlten sich ein klitzekleinwenig mit salzigem Wasser.

Drei Tage später starb Gertrud auf Station.

 

Gerne hätte ich ihre Endposition gesehen.

 

 

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Heidrun (Montag, 25 Mai 2020 18:15)

    Ein verblüffend einfühlsamer
    Beitrag. Sterben und Sterben lassen... Endlich mal wird "das Kind" beim Namen genannt. Auf diese Reise werde ich mich auch in absehbarer Zeit begeben müssen. Unter anderem, weil mein Brustkrebs so herrlich gestreut hat... Aber ich bin über 70- und jetzt haben Sie mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Allein die Idee, die Endposition zu üben.. köstlich! Viel Erfolg bei Ihrer Tätigkeit als Bestatterin. Mit freundlichen, aber - noch nicht - endzeitlichen Grüßen Heidrun

  • #2

    Miriam (Montag, 25 Mai 2020 18:55)

    Liebe Heidrun,
    Danke für Ihre Zeilen, die mich sehr rühren und freuen zugleich!
    Neulich bin ich über einen Zeitungsartikel aus meiner Heimat von 1997 gestolpert... besser gesagt, beim Ausmisten bin ich "drübergelesen". Da wurde ich in der 12. Klasse befragt, was ich nach dem Abitur so vor habe.
    Es erschien folgendes Zitat: "Letzten Endes muss man sich doch selber drum kümmern."
    ...hätte ich damals nur ansatzweise verstanden was das alles beinhaltet und bedeutet... ich weiss nicht, ob ich den Satz so aussprechen hätte können.
    Ich wünsche Ihnen alles Erdenkliche und Liebe und bin mir ends-sicher, dass Sie noch einige großartige Momente auf Ihr Lebenskonto verbuchen können!
    Leben Sie von Herzen WOHL!

  • #3

    Katharina (Samstag, 26 September 2020 19:45)

    So bist Du.
    Respekt für Deine Arbeit, nach wie vor.
    Lieber Gruss

  • #4

    Daniela (Mittwoch, 02 Dezember 2020 13:28)

    Was für ein toller Beitrag, der mich wirklich zu Tränen gerührt hat. So schön, dass du Gertrud erreichen konntest und sie dir Chance hatte ihre größte Angst auszusprechen. Das macht mich traurig und glücklich zugleich.

  • #5

    Erika Bäumel (Mittwoch, 02 Dezember 2020 15:24)

    So ein schönes Erlebnis und auch sehr mutig! Das liebe ich an Euch!

  • #6

    Sieglinde (Mittwoch, 02 Dezember 2020 15:27)

    Liebe Frau Endlich ;)
    Mein 16 jähriger Sohn Tim und ich, haben uns gestern über den Tod unterhalten. Er meinte, dass er auf jeden Fall verbrannt werden will. Er hat Sorge, dass er nochmal aufwacht und dann lebendig begraben ist. Die Überlegung finde ich plausibel. Zum Gespräch gehörte auch, dass wir nicht wissen was danach passiert, uns aber wünschen würde, uns irgendwo nach dem Tod wieder zu treffen. Vielleicht auf Kaffee und Kuchen. Oder einen Schnaps, denn wenn wir beide, also er und ich, Tod sind werde ich ihm schon erlauben, Alkohol zu trinken. Auch plausibel.
    Bei diesem Gespräch fiel mir ein, dass ich, als ich zarte 16 Jahre alt war, so neugierig darauf war, zu erfahren was danach kommt, dass ich mir manchmal gewünscht habe zu sterben.
    Jetzt wünsche ich mir das nicht mehr. Neugierig bin ich aber immer noch.
    Danke liebe Miri für diesen tollen Beitrag und diesen wunderbaren Blog!!
    Liebe Grüße
    Sieglinde