Sarge Dich nicht - lebe!

 

Die Kunst und Gabe des Taschentuchs

 

Ich kann mich daran erinnern, dass ich schon sehr früh die Gefühle anderer wahrgenommen habe.

Meine allererste Gefühls-Erinnerung ist die, als Oma Erna, die Mutter meines Vaters, starb.

Es lag etwas so zutiefst grundsätzlich Erschütterndes in der Luft. So hätte ich es als knapp 2-Jährige natürlich nicht benennen können und doch habe ich es so empfunden.

Alle um mich herum waren erschüttert darüber, dass meine Oma doch relativ plötzlich an einem Herzinfarkt kurz nach Weihnachten und kurz vor meinem 2. Geburtstag aus dieser Welt abgereist war.

Mein Vater hielt die Beerdigung für seine Mutter. Es war die 2. Beerdigung, die er als firsch gebackener Pfarrer in der idyllischen schwäbischen Gemeinde hielt.

Auf dieser Beerdigung war ich nicht. Im Nachhinein denk ich: ich wäre gern dabei gewesen.

 

Die nächsten Gefühls-Erinnerungen kamen unweigerlich durch das Leben im Pfarrhaus zustande. Gemeindemitglieder standen traurig und weinend vor unserer Haustür, um den Tod eines Angehörigen meinem Vater mitzuteilen oder zum Trauergespräch vorbeizukommen. Oder das Telefon klingelte und eine weinende Stimme klang aus dem Hörer heraus, mit der Bitte, meinen Vater sprechen zu dürfen.

 

Es hat mich seitdem ich fühlen und denken kann interessiert, warum Menschen vor Traurigkeit weinen und warum das Alles, was mit Tod zu tun hat, so schwer ist.

Ich war in der Kindheit so viele Jahre damit gesegnet, dass in meinem nahen Familienumfeld niemand starb. Abgesehen von Oma Erna. Ihr Mann starb im 2. WK mit 36 Jahren. Ihn kenne ich nur von einem einzigen Foto.

Die Eltern meiner Mutter starben als ich 21 bzw. 29 Jahre alt war. Von beiden habe ich so unglauchlich viel über Humor, der Liebe zur Gartenarbeit und vieles mehr gelernt. Dazu später sicher mehr.

 

Es hat mich schon immer zu den traurigen Menschen hingezogen.

Wenn ich jemanden auf der Strasse traurig blicken oder weinen sah konnte ich nicht wegschauen. Immer wollte ich irgendwas tun, den Traurigen etwas geben. Nur was? Ein Taschentuch ist vielleicht zu aufdringlich...

Was, wenn mich derjenige wegstößt? Ich kenne den Menschen teilweise ja gar nicht, was soll ich denn mit meinem Taschentuch da?

 

Ein Taschentuch zu geben, als reinen Akt, ist eine Sache.

Das andere und noch viel Wichtigere dabei ist, WIE ich das Taschentuch gebe!

Gebe ich es aus vollstem Herzen? Fühle ich wahrlich mit, da mich dieser Moment an meinen eigenen Schmerz erinnert, diesen wahrnehme und doch gleichzeitig nicht auf den anderen übertrage?

Oder gebe ich es genervt, weil der andere "schon wieder" weint, "einfach halt irgendwie so anstrengend emotional" ist oder mich vielleicht im tiefsten Inneren an meinen eigenen Schmerz erinnert, an den ich nicht erinnert werden will, weil es eben nun mal weh tut?

 

Wir sind so sehr damit beschäftigt unsere eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wut, Trauer, Aggression - alles Dinge, die man eben nicht "so gern" im Alltag sehen möchte. Nein, ich will das nicht auf der Strasse, beim Einkaufen, Autofahren, in der Arbeit oder Zuhause erleben. Das ist anstrengend und macht mich nur noch wütender, trauriger, aggressiver.

 

Ich bin damit groß geworden, mich in jemanden hineinzufühlen, Verständnis dafür zu haben, wenn mich jemand ungerecht behandelt, beleidigt und verletzt hat. Das war nicht immer leicht, aber irgendwann hat sich bei mir der Automatismus breit gemacht zu denken: "Ach komm, ärger Dich nicht, sei nicht verletzt, Du weisst nicht, was der/diejenige heute oder die Tage zuvor erlebt hat." Das half, gab jedoch meinem Gegenüber irgendwie den Freifahrtschein mit mir umgehen zu können wie es demjenigen grad gefiel. Wobei "gefiel" der falsche Ausdruck ist, denn im ganzganz Inneren des/derjenigen war ja letztlich (un)bewusstes Unglück der Ursprung des Verhaltens mir gegenüber. Von mir gab es jedenfalls nur sehr selten Gegenreaktionen. Ich habe eher geschluckt und versucht verständnisvoll zu bleiben.

 

Auf Dauer war das Problem mit dem Verständnis nur, dass ich meiner eigenen Trauer und Wut keinen Platz erlaubt habe. Ja, die anderen konnten doch nicht anders und ich hatte Verständnis dafür... haben wollen, sollen.

Und so kam es, dass ich irgendwann in meiner eigenen unausgelebten Wut und Trauer gar nichts mehr empfinden konnte. Ich habe nichts in mir gefühlt. Gar gar nichts. Außer: die Gefühle der anderen. Vermeintlich.

 

Als live Moderatorin und noch mehr als KlinikClown und Clown ohne Grenzen kommt man mit den Menschen zusammen und versucht innerhalb sehr kurzer Zeit auf die (auch emotionalen) Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen, so dass man darauf aufbauen und sich gemeinsam in höhere, leichtere Sphären hinauf katapultiert, gemeinsam lacht und die Situationskomik gemeinsam findet und erlebt. Ich war bereits jahrelang darin geübt. Und so konnte ich auf die anderen eingehen, weil ich ja schließlich davon überzeugt war zu fühlen, was andere fühlen.

Zeitgleich hatte ich mich komplett verloren.

 

Mit Ende 20 saß ich bei einer Therapeutin.

Ich weiss noch wie ich in das Zimmer kam, unsicher, was ich jetzt hier eigentlich mache, weil ich doch bisher immer alles irgendwie selbst geschafft habe. Und jetzt DAS. Ich in Therapie. Pah.

Ich folgte ihrer Bitte mich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Ungelogen: in dem Moment, als ich mich hinsetzte und ihr in die Augen sah, kam innerhalb von Millisekunden und mit einer unglaublichen Wucht eine noch viel unglaublichere Traurigkeit gepaart mit Gerührtheit in mir hoch, die ich so seitdem nicht mehr gefühlt habe.

Ich war so unfassbar gerührt von mir selbst, weil ich mich nun offenbar ENDLICH um mich selbst kümmerte. Und gleichzeitig habe ich mich betrauert, dass es überhaupt erst soweit hat kommen müssen.

 

Für 80€ weinte ich die ganze Stunde durch. Bis auf meinen Namen und einer kryptischen Erklärung, warum ich denn hier sei, kam nicht mehr aus mir heraus. Vor lauter Schluchzen. Irgendwo zwischen meinem Schluchzkonzert bekam ich ein Taschentuch gereicht. Und das hat mich dann schon wieder so gerührt, dass MIR jemand ein Taschentuch reicht, MIR jemand versucht zu helfen, MIR jemand zuhört, MIR jemand erlaubt, all das rauszuhauenheulen, was seit Jahren in mir schlummerte.

Es waren die best-investiertesten 80€ die ich je ausgegeben habe.

 

Das Fazit dieser 80€-Stunden:

• Ich kann nicht fühlen, was andere fühlen. Es sind deren Gefühle, Realität und Wahrnehmung.

• Ich muss lernen mich abzugrenzen, sonst kann ich meiner Berufung, anderen Menschen in Krisensituationen beizustehen, nicht mehr nachgehen.

• Ich bin größenwahnsinnig.

 

Letzteres hat mich kurzzeitig irritiert.

Mittlerweile denke ich mir: ja, ich bin größenwahnsinnig. Na und? Es gab und gibt Schlimmere die das sind, es jedoch vielleicht nie von sich selbst gesagt haben.

Also ehrlich: wenn ich nicht groß denke und fühle, werde ich meiner Vision nicht gerecht, die da ist, Menschen an die Hand zu nehmen und ihnen zu zeigen, dass ein Leben mit dem Tod besser ist, als den Tod permanent aus dem Leben zu streichen und ihn zu ignorieren.

Es ist hart aber wahr. Oder besser: Hart aber herzlich (eine meiner Lieblingsserien in den 80-ern by the way)... kein Paar Schuhe, kein Auto, keine Droge der Welt kann mir den Tod "wegmachen".

 

Der Tod ist Deine beste Freundin, Dein bester Freund!

Das Beste, was Dir passieren kann!

 

Wenn Du ihn an der Hand nimmst, wird er Dich um Welten besser durch diese ver-rückte Welt lotsen, als alles und jede.r andere. Der Tod trägt immer eine Packung Taschentücher bei sich.

 

Er erinnert Dich daran, dass wir hier nur eine begrenzte Zeit haben.

Wir können (normalerweise) nicht voraussagen, ob wir in 12 Jahren, 7 Monaten, 24 Tagen oder 2 Stunden noch auf dieser Welt sein werden.

Wenn ich mir dessen immer wieder bewusst werde, entscheide ich mich dann vielleicht anders in meinen Lebensbereichen wie Arbeit, Beziehung und Lebenszeit?

Möchte ich meine Lebenszeit mit diesem Menschen an meiner Seite, im Café, im Urlaub, mit dieser Arbeit oder auf jener Party verbringen? Gibt es da noch was, was ich gerne machen, erleben oder sehen würde, bevor ich gehe?

 

Wie finde ich das heraus ohne gleich Panik zu kriegen, weil ja schlussendlich doch wieder nur der Tod auf mich wartet?

Sei still.

Und - ganz wichtig:

Atme.

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Kommentare: 1
  • #1

    Margit Obermaier (Sonntag, 17 Januar 2021 16:02)

    Hallo Miriam, dein Blog hat mich an den folgenden Artikel denken lassen. Ich finde er passt (gerlinde sagt) vortrefflich, viele Grüße von Margit
    https://sz-magazin.sueddeutsche.de/familie/stofftaschentuecher-troestlich-alena-schroeder-89647